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5. Februar 2021

Transparenz, Klarheit und Vertrauen: Impfen ist der Weg aus der Krise

Der Frust ist groß. Der Impfstoff fehlt. Das hat Gründe. Auch gute Gründe wie Sicherheit und Vertrauen. Aber: Europa hätte kraftvoller in die Produkion investieren müssen. Whatever-it-takes wäre auch hier der richtige Maßstab gewesen. Transparenz, Klarheit und Fakten müssen jetzt her, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen …

Schauen wir uns einmal die Situation an. Während noch Mitte des letzten Jahres die schärfsten Kritiker behaupteten, eine Impfstoffentwicklung sei binnen eines Jahres absolut unrealistisch, haben wir jetzt schon mehrere zugelassene Impfstoffe. Das ist ein enormer Erfolg. Und es ist auch ein enormer Erfolg der EU, der die Forschung mehrerer Hersteller mit dreistelligen Millionenbeiträgen gefördert hat – ohne, dass der Erfolg absehbar war. In der größten Gesundheitskrise der letzten Jahrzehnte haben Forscherinnen und Forscher nicht binnen 10 Jahren, sondern binnen 10 Monaten einen Impfstoff entwickelt.

Eine Frage vorweg: national oder EU-weit?

Trotz der großen Probleme, die wir aktuell sehen: Es war und ist der richtige Weg, auf eine gemeinsame EU-Bestellung zu setzen. Das gilt und galt vor allem nach einem Beginn der Pandemie, bei der die Italiener händeringend Masken suchten und wir den Export derselben verhängt haben. National lösen wir die Pandemie nicht. Das gilt auch beim Impfstoff und zwar aus 3 Perspektiven: Kleine und finanzschwache Staaten hätten kaum eine Chance, eigene Impfstoffbestellungen zu tätigen. Eine solche Ungleichzeitigkeit hätten wir niemals zulassen dürfen und man hätte sie den Deutschen in Europa auch nicht verziehen. Zweitens: Was hilft uns ein Zustand, in dem Deutschland hohe Impfquoten hat, die Slowakei und Polen aber noch auf die ersten Impfdosen warten? Für die Pandemie wäre das keine Lösung. Es sei denn, man schließt die Grenzen, stoppt die internationalen Lieferketten und zieht sich auf seine Scholle zurück. Schließlich: Eine Situation, in der wir Deutschen erfolgreich auf eine eigene Impfstoffbestellung gesetzt hätten und an anderen Stellen in Europa womöglich Russland und China helfend eingesprungen wären, die wäre enormer Sprengstoff für die Union.

EU-Bestellung

Zur Faktenlage gehört das: Der Prozess der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung der EU begann mit der entsprechenden Vereinbarung am 12.06.2020. War das zu spät? Vielleicht. Ob es für Vorverträge, für Bestellungen oder gemeinsame Koordinierung im April oder Mai nicht auch schon gute Gründe gegeben hätte? Möglich. Die EU hat ein Verhandlungsteam mit Mitgliedern aus sieben Mitgliedstaaten eingerichtet. Mit dabei: das Bundesministerium für Gesundheit. Wer verhandelt da? Das ist nicht öffentlich, das macht auch das BMG nicht öffentlich. Jeder Vertrag muss vom Steering Committee abgesegnet werden. Darin: Alle Mitgliedstaaten. Und bevor ein Vertrag gezeichnet wird, müssen alle zustimmen. Halten wir fest: Es sind neben der Kommissarin Kyriakides und der Chefverhandlerin Gallina die Mitgliedstaaten, die den Prozess bestimmen. Nicht das Parlament. 27 bestimmen. Kann es da wundern, dass ein Prozess, in dem 27 bestimmen, länger dauert, als wenn einer bestimmt?

AstraZeneca

Im April 2020 sagt man in Oxford: AstraZeneca wird im September als erstes durch die Ziellinie schreiten. Die Technologie ist bekannt und erprobt, das Unternehmen renommiert, die Oxford University dabei. Schon im Juli ist der Deal mit AZ vorbereitet: 300 bis 400 Millionen Dosen. Der Preis ist gut, sagt man. Wo stehen wir jetzt: Mit deutlicher Verzögerung wird Astrazeneca nun auf den Markt kommen. Aber: Neben Biontech hat auch AstraZeneca (und zwar in deutlich höherem Maße) Minderlieferungen angekündigt. Die Debatte schaukelt sich nun hoch. Jetzt hat die Kommission den (teils geschwärzten) Vertrag veröffentlich. Bewertung: teils klare Liefermengen und Liefertermine, aber eben auch: Best reasonable effort. Das ist zu wenig. Das reicht nicht. Keine Vertragsstrafe, keine Verbindlichkeiten. Und das ist frustrierend. Ob es andere Vertragsformulierungen und höhere Verbindlichkeiten mit dem Unternehmen hätte geben können – wer will das von außerhalb des Verhandlungsteam beurteilen?

Im September folgt eine EU-Verabredung mit Sanofi, im Oktober mit Johnson & Johnson. Am 9. November verkündet Biontech seine hervorragende Wirksamkeit. Am 11. November ordert die EU. 2 Tage später. Am 16. November biegt Moderna auf die Zielkurve ein. Am 27.11. ordert die EU bei Moderna.

Europäische Prioritäten

Die große Herausforderung, glauben viele Mitte letzten Jahres, wird in Europa sein: Lassen die Menschen sich impfen!? Nur 56 % der Polen, nur 59 % der Franzosen und auch nicht viel mehr in Deutschland wollen sich im Sommer 2020 impfen lassen. Impfskepsis macht sich breit. Auch heute sind wir bei deutschem Pflegepersonal weit weg von einer hundertprozentigen Impfbereitschaft. Gerade deshalb setzt sich die Kommission hohe Ziele für die Impfstoffbeschaffung. An Nummer 1 steht: Sicherstellung der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen. Erst danach folgen rascher Zugang und erschwinglicher Preis. Diese Strategie konnte im September jeder nachlesen. Auch die, die jetzt laut aufschreien. War sie richtig? Hätte man nicht viel mehr Wert auf rasche Verfügbarkeit legen müssen und dafür alle Hebel in Bewegung setzen müssen? Modell Kanada: 5 Impfstoffe und von fast jedem einzelnen so viel bestellt, dass es schon der einzelne für ganz Kanada reichen würde?

Gedankenspiel: Zur gleichen Zeit hat in Deutschland Bundesminister Spahn gerade mit denen zu kämpfen, die ihm zu hohe, ineffiziente und überteuerte Beschaffung von Masken vorwerfen. Wie wäre eigentlich die parlamentarische, öffentliche und mediale Debatte verlaufen, wenn da die EU gesagt hätte: Egal, was es kostet, egal, wieviel. Und egal wie unsicher das Ergebnis: Wir hauen alles raus, was geht. Der Preis spielt keine Rolle.

Gemessen an ihren Prioritäten hat die Kommission zeitig wichtige Türen aufgestoßen: Frühzeitige Einbindung der EMA, Beschleunigtes Zulassungsverfahren, Flexibilität in Bezug auf Kennzeichnungs- und Verpackungsvorschriften und vor allem: Millioneninvestitionen in die

Wie klug verhandelt die Kommission?

Konfliktlinie 1: Haftung: Ein 15-Jahre altes amerikanisches Gesetz, der sogenannten PREP Act, befreit Hersteller in einer solchen pandemischen Notlage großzügig von der Haftung für ihr Impfprodukt.

Während man in den USA und vermutlich auch in UK und Israel großzügig die schwierigen Haftungsfragen zur Seite schiebt, ist die EU vorsichtig. Aus Erfahrung und vielleicht mit guten Gründen.

Können wir uns eigentlich heute – wenigstens gedanklich – Debatten vorstellen (weit vor den ersten Impfergebnissen), wo die EU gesagt hätte: Wir stellen Haftungsfragen hinten an? „Unverantwortlich! EU-Bürgerinnen als Versuchskaninchen! Unternehmen sacken den Gewinn ein und pfeifen auf die Folgen“ Und was hätte diese Debatte mit der Impfbereitschaft der Europäerinnen und Europäer gemacht?

Konfliktlinie 2: Geld: Die EU stellt schnell die finanziellen Mittel zusammen. Im Sommer hat sie ein Portemonnaie – gefüllt mit 2,1 Milliarden Euro für Ankauf und Anzahlung. Reicht das? Als Deutschland im September auf Biontech setzt und dort wie bei CureVac hohe Forschungssummen ausgibt und gern mehr bestellen will, sind andere skeptisch. Und widersprechen: Warum soll bei einem teuren, unerprobten Impfstoff, der noch dazu aufwendigste Logistik (Tiefkühlung bei minus 80 °) braucht, hohe Mengen ordern, während der günstige kurz vor der Beantragung stehen?  Anfang September fragt die Kommission nach weiteren 750 Millionen, um die Deals abzuschließen. Mitgliedstaaten fragen erstmal nach genauer Begründung und blocken. Über die Verhandlungsführerin Gallina ist man im Herbst voll des Lobes: Sie hätte die Mitgliedstaaten zusammen gehalten und sei hart in den Verhandlungen mit den Herstellern. Sie verteidige europäische Verbraucherrechte und das Portemonnaie der Europäer. Eine harte Verhandlungsführerin. Das wollte man sehen.

Vielleicht ist das ein echter Schwachpunkt der Strategie: Deutschland und die Führung der EU haben zugelassen, dass der Preis ein maßgebliches Kriterium wird. Während wir an anderer Stelle mit „whatever it takes“ und der Bazooka kommen, war Europa vielleicht zu knauserig. Hätten wir größere Lieferungen, wenn wir mehr gezahlt hätten? Vielleicht. Zumindest so: Vielleicht wäre an der ein oder anderen Stelle schneller und mehr in Produktionskapazitäten investiert worden, wenn die EU großzügiger bestellt (und nicht nur Absicht erklärt) hätte. Ja. Und unter Garantie hätten wir bei gescheiterten MRNA-Impfstoffen und gleichzeitiger Bestellungen mit schon vereinbarten Milliardenkosten einen Aufschrei, wie denn die EU solche Summen für einen unsicheren, unerprobten … Es sind Entscheidungen unter Unsicherheit. Bei Knappheit der Produktionsfaktoren.

Konfliktlinie 3: Die Hersteller und ihre Forderungen. Anfang letzter Woche hat die EU ihren Vertrag mit CureVac öffentlich gemacht. Darin: Verbot für die EU, ihren überschüssigen Impfstoff zu verschenken. Es hat keine 24 Stunden gedauert, dass die Vereinbarung öffentlich als unverantwortlich kritisiert wird. Glaubt denn bitte irgendwer, Johnson, Trump oder Netanjahu hätten sich mit solchen Herstellerforderungen überhaupt eine Sekunde aufgehalten? Deutsche und europäische Öffentlichkeit stellen andere Anforderungen. Das gilt auch beim Thema Datenschutz: Israel soll Biontech die Daten der Geimpften zugesagt haben. Ein solcher Vorgang wäre in Europa undenkbar. Er hätte die allergrößte Entrüstung zur Folge!

Konfliktlinie 4: Bindungen und nationaler Vorrang. In der ersten Runde bestellt die EU mehr bei Biontech als die USA. Dennoch: USA bekommt bis Ende Juli 200 Millionen Dosen, die EU vermutlich erst bis Ende des Jahres. Herstellort USA heißt: Dort wird geliefert. Sowohl für Biontech als auch für Moderna gilt also: da die us-amerikanischen Standorte nur in die USA liefern, müssen die europäischen Standorte nicht nur Europa, sondern auch den Rest der Welt beliefern. America first hat bei uns Auswirkungen.

Machen wir uns nichts vor: Seit Jahren sinkt die Forschungsinvestition in Europa in Impfstoff rapide. Landauf landab werden Mittel deutlich gekürzt. Kann es uns da wundern, dass wir kaum Produktionskapazitäten haben und diese auch nicht mal eben aufbauen können? Europe first kann nicht unsere Strategie sein. Aber klar ist: Auf Fair share müssen wir bestehen. Da hat Gesundheitsminister Spahn recht. Und deshalb begrüße ich Vorstöße, bei denen man deutlich macht: Dann gibt es halt einen Exportstopp. EU-Verhandlung muss hier klar sein. Oder klarer werden.

Blick in die Zukunft: Bottleneck ist nicht die Bestellung, sondern die Produktion. Hier muss mehr Tempo auf die Straße. Gutes Signal: Sanofi wird jetzt für Biontech produzieren. Nehmen wir einmal die gesamte Strecke in den Blick: Für die Überwindung der Pandemie sind vermutlich nicht die Impfungen der ersten 30 % entscheidend (für die Senkung der Todesrate bei den vulnerablen Gruppen schon), sondern dass wir die Impfquote auf 60 vermutlich sogar 70 oder 80 % heben. Das ist die Herausforderung. Es ist, wie Angela Merkel zu Recht sagt, ein Marathon. Transparenz ist entscheidend, auch bei der Rückschau, bei der ehrlichen Aufarbeitung. Für Vertrauen in der Zukunft. Diese Transparenz muss es jetzt geben. Ich erwarte, dass die Kommissionspräsidentin und die Gesundheitskommissarin jetzt schnell, offen und transparent kommunizieren. Wo es etwas zu verbessern gibt, muss jetzt nachgebessert werden. Diese Transparenz haben wir als CDU/CSU-Gruppe und als EVP sowohl Anfang des Jahres als auch jetzt in den letzten Wochen in deutlichen Worten bei Ursula von der Leyen und bei Stella Kyriakides eingefordert.

Mit dem Wissen von heute: Vermutlich wäre es klug, mutig und richtig gewesen, zeitig und unabhängig vom Fortschritt der jeweiligen Forschung in Produktionskapazitäten zu investieren. Mit voller Kraft, großem Geld und mit viel Risiko.

Diese Kritik braucht aber nicht immer mediale Lautsprecher. Gleichwohl muss sie deutlich sein.

Bei der Frage der Kritik und bei der Fehlersuche kann jeder bei sich anfangen. Nur mit dem Finger auf andere zeigen, nur populistische Parolen nachplappern, das ist keine Aufarbeitung. Das ist politischer Opportunismus. Realistische Kritik an der EU ist sehr willkommen: Hilfreich ist sie dann, wenn sie konkret benennt, was die EU an welchem Zeitpunkt anders und vor allem, wie sie es hätte anders machen müssen. Und dann: Lösungsorientiert und zukunftsgerichtet.

Als Europaabgeordneter bin ich Anfang 2021 frustriert und unzufrieden. Das ist so nicht gut gelaufen. Wir waren nicht schnell genug, wir haben zu wenig investiert, wir waren auch bürokratisch und wir haben zugelassen, dass Menschen Vertrauen in die EU verlieren. Und: jeder Tag Verzögerung kostet Menschenleben. Das schmerzt mich.

Trotzdem habe ich ein bisschen mehr Demut als alle, die jetzt laut schreien und auf die EU zeigen. Weniger als 12 Monate nach Beginn einer neuartigen Pandemie stehen in Europa Impfstoffe zur Verfügung. In allen Mitgliedstaaten, zunächst für vulnerable Gruppen und im Verlauf des Jahres vermutlich für jeden. Das ist bei aller Kritik eine epochale Leistung.